Kinder nehmen die Welt mit großen Augen und offenem Herzen wahr. Doch oft hören wir in der Schule Aussagen wie: „Ich kann das nicht.“ oder „Ich bin nicht gut in Mathe.“ Solche Äußerungen sind mehr als nur beiläufige Sätze – sie zeigen, wie Kinder sich selbst wahrnehmen. Als Lehrkräfte haben wir die wertvolle Aufgabe, diese Selbstbilder mitzugestalten. Unsere Worte können ein Kind ermutigen oder es in seinen Zweifeln bestätigen.

Juli ist 7 Jahre alt. Sie geht in die zweite Klasse. Und Mathe mag sie nicht. In der ersten Klasse hat sie ziemlich erfolgreich die Arbeit verweigert, ohne, dass es wirklich aufgefallen war. Juli ist ruhig, sie macht keinen Ärger in der Klasse, sie legt ihre Sachen bereit, sie öffnet auch ihr Buch… aber dann, dann malt sie. Nachdem Juli in der ersten Klasse gemerkt hat, dass keiner so richtig weiß, wie er ihr helfen kann, sie ein paar mal gehört hat: „Juli, rechne das doch mal, das ist doch ganz einfach“, es aber ganz schön schwer für sie war, hat Juli beschlossen, dass sie Mathe einfach nicht kann. In der zweiten Klasse ist der Lehrer nun aber anders drauf. Er fordert ein, dass Juli die Aufgaben beenden soll, wie alle Kinder. Er stellt fest: Juli schafft das noch nicht allein. Und immer mal wieder setzt er sich einen kleinen Moment zu Juli und fragt nach: Hast du verstanden, wie es geht? Brauchst du noch Unterstützung? Sollen wir es gemeinsam probieren?
Am Anfang fragt Juli nichts, sie versucht nur mechanisch zu machen, was der Lehrer ihr vormacht. Doch dann auf einmal klappt eine Aufgabe, dann noch eine und in der nächsten Mathestunde kommt Juli nach vorn und sagt: „Das mit Plus geht schon ganz gut. Können wir auch noch mal Minus malen?“ Der neue Mathelehrer, nimmt sich die Zeit. Nicht nur für Juli. Sondern für alle Kinder, die nochmal nachfragen müssen. Er sagt: Fragen sind toll, so können alle davon lernen! Und niemand fühlt sich schlecht, weil er noch nicht alles kann.
Juli sagt: Ich kann noch nicht alles in Mathe. Manche Zahlen schreibe ich immer falschrum und ich merke das gar nicht, bis mir der Lehrer das sagt. Für mich sehen die Zahlen immer richtig aus, egal wie rum sie da stehen. Minus ist auch schwer für mich. Aber Plus geht schon viel besser. Und bald schaffe ich bestimmt auch Minus, wenn ich übe und probiere. Der neue Mathelehrer sagt, ich bin richtig gut geworden. Und das finde ich auch. Jetzt schaffe ich ja schon viele von meinen Aufgaben.
Die Macht der Sprache
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul betont in seinen Büchern, dass Kinder nicht durch Kritik wachsen, sondern durch wertschätzende Beziehungen. Er spricht von Gleichwürdigkeit, also der Idee, dass Kinder und Erwachsene auf Augenhöhe miteinander sprechen sollten. Wenn ein Kind sagt: „Ich kann das nicht.“, dann ist es wichtig, nicht sofort mit „Doch, das kannst du!“ zu reagieren. Das Kind fühlt sich in seiner Wahrnehmung nicht ernst genommen. Stattdessen könnten wir fragen: „Was genau fällt dir schwer?“ oder „Wie könnte ich dir helfen?“.
Typische Aussagen von Kindern und wertschätzende Reaktionen
- „Ich kann das nicht.“ → „Vielleicht fühlt es sich gerade schwer an. Wollen wir es zusammen probieren?“
- „Ich bin schlecht in Mathe.“ → „Rechnen ist Übungssache! Lass uns einen Weg finden, wie es für dich leichter wird.“
- „Alle anderen sind besser als ich.“ → „Jeder lernt in seinem eigenen Tempo. Womit bist du zufrieden bei dir?“
- „Ich bin dumm.“ → „Dumm gibt es nicht. Jeder Mensch hat Stärken und Lernfelder.“
Warum Hinterfragen hilft
Statt zu kritisieren oder zu widersprechen, hilft es, solche Aussagen behutsam zu hinterfragen. Juul erklärt, dass Kinder oft unbewusst die Bewertungen übernehmen, die sie von ihrer Umgebung hören. Wenn wir ihre Sätze sanft hinterfragen, zeigen wir ihnen, dass es eine andere Sichtweise gibt.
Auch neuere psychologische Forschungen, etwa von Carol Dweck zur Growth Mindset-Theorie, bestätigen, dass die Art und Weise, wie wir mit Herausforderungen umgehen, entscheidend für unser Selbstbild ist. Kinder, die erleben, dass Fehler zum Lernen dazugehören, entwickeln mehr Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen.

Die Superkraft der Worte
Unsere Worte formen das Selbstbild der Kinder. Indem wir ermutigend, geduldig und hinterfragend auf ihre Aussagen reagieren, helfen wir ihnen, ein positives Selbstkonzept zu entwickeln. Wenn wir mit warmherzigen Worten zeigen, dass wir an sie glauben, dann tun sie es irgendwann auch selbst. 💛
Quellen:
- Juul, Jesper (1997): Dein kompetentes Kind
- Dweck, Carol (2006): Mindset – The New Psychology of Success
- Rosenberg, Marshall (2003): Gewaltfreie Kommunikation
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